So vermeiden Sie Aggressionen in der Pflege

Berlin – Gewalt kommt leider vor, auch in der Pflege. Wie groß das Problem genau ist, weiß niemand. Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch, erklärt Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP).

Denn Gewalt in der Pflege passiert nicht nur im Heim, sondern auch zu Hause unter Angehörigen. Ein Gespräch über die verschiedenen Gesichter von Gewalt – und darüber, was im
Ernstfall zu tun ist.

Bei Gewalt denken die meisten an körperliche Gewalt. Doch was heißt das im Pflegekontext?

Ralph Suhr: Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gewalt in diesem Kontext als eine Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion, die älteren, pflegebedürftigen Menschen im Rahmen einer Vertrauensbeziehung Schaden oder Leid zufügt. Gewalt hat demnach viele Gesichter. Natürlich ist damit auch psychische Gewalt gemeint, aber physische ebenso: Anschreien, Herabwürdigen, pflegebedürftige Menschen zum Essen zwingen oder lange auf Hilfe warten lassen.

Gewalt ist also auch, wenn ich etwas nicht tue?

Suhr: Unterlassung kann ebenfalls Gewalt sein, Vernachlässigung rund um die Hygiene etwa. Andere Formen sind Verletzungen von Schamgefühl oder der Intimsphäre. Auch finanzielles Ausnutzen ist eine Form von Gewalt, ebenso wie pflegebedürftigen Menschen die Freiheit zu entziehen, indem sie eingeschlossen, mit Gurten fixiert oder mit Hilfe von Medikamenten ruhig gestellt werden. Umgekehrt können Pflegende betroffen sein, zum Beispiel in Form von Beleidigungen oder körperlichen Übergriffen durch einen Pflegebedürftigen.

Wissen wir, wie oft Gewalt in der Pflege vorkommt?

Suhr: Alle vorliegenden Zahlen zur Häufigkeit sind mit großer Wahrscheinlichkeit eine Unterschätzung des Problems, da zum Beispiel viele Befragte aus Angst oder Scham nicht darüber sprechen wollen, wenn sie Gewalt erfahren – oder wenn sie selbst Gewalt angewendet haben. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2016 hat gezeigt, dass weltweit rund 10 Prozent der älteren Menschen von Gewalt betroffen sind. Bei Menschen mit Demenz ist die Zahl deutlich höher, sie liegt bei etwa 40 Prozent. In Deutschland dürften die Werte ungefähr auf dem gleichen Niveau liegen – wobei die Häufigkeit davon abhängt, von welcher Form von Gewalt wir sprechen.

Welche Folgen hat erlebte Gewalt für die Pflegebedürftigen?

Suhr: Das sind zunächst einmal Verletzungen – sei es des Körpers oder der Seele. Betroffene ziehen sich zurück, fühlen sich wertlos, haben Angst. Das kann bis zu Suizidgedanken gehen.

Wie entsteht die Gewalt?

Suhr: Gewalt in der Pflege ist oft die Summe verschiedener Faktoren. Einer der Risikofaktoren für Gewalt ist zum Beispiel Stress und Überforderung – in der Pflege zu Hause ebenso wie in einer Pflegeeinrichtung. Es ist hierbei aber nicht so, dass Überlastung Pflegender immer zu Gewalt führt. Daneben können ein hohes Aggressionspotenzial, eigene Gewalterfahrungen, eine Suchterkrankung oder gesundheitliche Probleme zu aggressivem, gewalttätigen Verhalten führen – ebenso wie zwischenmenschliche Konflikte oder ein starkes Abhängigkeits- oder Dominanzverhältnis zwischen Pflegendem und Gepflegtem.

Was mache ich als Angehöriger, wenn ich Gewalt beobachte?

Suhr: Dass man solche Vorgänge direkt beobachtet, ist ja selten. Aber wenn ich Anzeichen entdecke, blaue Flecke etwa, oder Änderungen im Verhalten meines Angehörigen, dann muss ich das klären. Einmal durch Nachfragen – die Betroffenen werden das nicht von sich aus erzählen. Auch an die Geschäftsführung, die Pflegedienst- oder die Heimleitung kann ich mich direkt wenden. Tritt dann keine Verbesserung ein, kann Beschwerde bei der Heimaufsicht oder dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen eingereicht werden. Daneben gibt es Beschwerdestellen für die Altenpflege sowie Hilfetelefone, an die sich jeder wenden kann. In schwerwiegenden Fällen sollte die Polizei eingeschaltet werden.

Genauso können ja pflegende Angehörige Gewalt ausüben – obwohl sie den Pflegebedürftigen besonders nahestehen sollten. Wie kann das sein?

Suhr: Auch da kommt einiges zusammen. Aber eine enge Beziehung kann selbst ein Risikofaktor für Gewalt sein. Wenn jemand seine Schwiegermutter pflegt, zu der er immer ein problematisches Verhältnis hatte, potenziert sich das in dieser Situation natürlich noch. Und bei vielen pflegenden Angehörigen fehlt oft Fachwissen, gerade bei der Pflege eines Menschen mit Demenz: Es ist für viele zum Beispiel schwer zu verstehen, dass sich das gezeigte Verhalten des Menschen mit Demenz – zum Beispiel Schreien oder Schimpfen – gar nicht gegen sie persönlich richtet, sondern Symptom der Erkrankung ist.

Wie verhindere ich, als Angehöriger selbst gewalttätig zu werden?

Suhr: Es gibt Frühanzeichen dafür, dass so etwas passieren kann – ständige Müdigkeit zum Beispiel oder Gereiztheit, Schuld- oder Versagensgefühle, dieses «Ich schaff nicht mal das». Deshalb ist es so wichtig, dass pflegende Angehörige von Anfang an Möglichkeiten zum Ausgleich und zur Erholung schaffen. Angehörigenpflege ist eine herausfordernde und langfristige Angelegenheit, im Durchschnitt, so zeigen Studien, über acht Jahre. Die hält man nur durch, wenn man auf sich achtet.

Und was, wenn es trotzdem zur Gewalt kommt?

Suhr: Wichtig ist vor allem, solche Vorfälle nicht zu verharmlosen. Man muss sich dann Strategien suchen, um eine Wiederholung zu vermeiden – da gibt es Techniken, um aggressive Situation zu entschärfen. Das können ganz einfache Dinge sein, das Zimmer verlassen, wenn man spürt, dass man wütend wird, oder tief durchatmen und bis zehn zählen etwa. Und dann sollte man sich
Hilfe holen.

Wo gibt es die?

Suhr: Eine wichtige Rolle spielen dabei die rechtlich verankerten Ansprüche auf Pflegeberatung, Schulung und Anleitung zur Pflege. Diese Angebote sind bisher wenig bekannt oder werden nicht genutzt. Darum ist es so wichtig, diese Angebote zu stärken, besser zu bewerben und auch unter dem Gesichtspunkt Patientensicherheit und Gewaltprävention qualitativ weiterzuentwickeln.

Fotocredits: Mascha Brichta
(dpa/tmn)

(dpa)

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