Unser Kind kommt in die Schule und wir gleich mit

München – Als andere Eltern mit ihren Kindergartenkindern Lesen und Schreiben übten, war Anke Willers irritiert: Lernt man das nicht in der ersten Klasse? Dennoch sah sie der Grundschule gelassen entgegen. Als es aber nach der Einschulung der Älteren hieß, bis Weihnachten müssten die Kinder einigermaßen lesen können, war klar: Ganz so einfach würde es nicht werden.

«Schon im Kindergarten merkt man, dass die Leute wahnsinnig aufgeregt sind», erzählt die Münchnerin, die als Redakteurin für Eltern-Zeitschriften arbeitet. Sie selbst habe sich zunächst gewehrt, eine «Förder-Mutter» zu sein. Doch der Widerstand währte nur kurz.

Die Lehrer hätten die Eltern explizit aufgefordert, mit den Kindern zu üben, erzählt sie. Bald merkte sie, dass nicht alles so selbstverständlich klappte wie erwartet. Regelmäßig half sie abends beim Lernen – und rutschte immer mehr in die Rolle einer Hilfslehrerin.

Über die Schulzeit ihrer Töchter hat Anke Willers ein Buch geschrieben. In «Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule?» berichtet sie, wie der Schulstress jahrelang den Familienfrieden bedrohte. Gerade in Bayern beginne der Druck besonders früh, sagt sie. Denn dort dürfen die Eltern nicht mitentscheiden, welche weiterführende Schule das Kind besucht. Aus vielen Gesprächen aber wisse sie, dass Eltern in anderen Bundesländern ähnliche Erfahrungen machen.

Aus Druck kann Abwärtsspirale der Angst entstehen

Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens: An dem Spruch sei tatsächlich etwas dran, sagt Kinder- und Familientherapeut Philip Streit. «Schließlich gibt es immer ein Lernziel, das erreicht werden muss.» Allerdings sei ein gewisses Stresslevel nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Um Herausforderungen meistern zu können, brauche es ein bestimmtes Niveau an Erregung. Wichtig sei aber, dass der Druck nicht im Vordergrund stehe. «Sonst gerät man leicht in eine Abwärtsspirale der Angst», sagt der Grazer Psychologe.

Kinder sollten stattdessen auf eine liebevolle, positive Art herausgefordert werden. «Sonst entstehen Blockaden.» Eltern könnten unterstützen, indem sie ein Klima schaffen, in dem sich die Kinder aufgehoben fühlen. «Das Wichtigste ist eine strukturierte, wohlwollende Umgebung», so Streit. Er empfiehlt, Kindern zu zeigen, dass man nicht nur für sie da ist, wenn sie funktionieren.

Bei Problemen in der Schule rät er Eltern, ruhig und souverän zu bleiben. Straf- und Belohnungs-Systeme brächten meist keinen Erfolg. Helfen würden Achtsamkeit und Beharrlichkeit. «Die Eltern spüren, was das Kind kann und will und wo es an der Grenze ist», betont Streit. Sie sollten für sich selbst die Sicherheit haben: «Aus meinen Kind wird ganz sicher etwas.»

Mehr Interesse an Inhalten und nicht an Noten

Erziehungswissenschaftlerin Britta Kohler von der Uni Tübingen rät zu Gelassenheit – vor allem, was das Thema Noten angeht. Die Schule sollte in erster Linie als Ort wahrgenommen werden, an dem man für sich selbst etwas lernt. «Wenn Eltern mehr Interesse an den Inhalten als an den Noten haben, ist das schon eine Botschaft für das Kind», sagt die Professorin. Sie empfiehlt, nicht zu vergleichen – weder mit Geschwisterkindern noch mit Freundinnen und Freunden.

Auch sollte die Schule nicht das beherrschende Thema sein. «Damit das Kind zu Hause immer noch Kind ist und nicht Schüler oder Schülerin. Und damit das Zuhause auch keine Zweigstelle der Schule wird.» Wichtig sei auch, nicht vorschnell zu unterstützen – aus Sorge, dass es Probleme geben könnte.

Anke Willers begreift den Bildungsdruck auch als gesellschaftliches Problem. Auf Parties sei sie ganz selbstverständlich gefragt worden: «Und, auf welche Gymnasium gehen deine Töchter?» Dass diese eine Realschule besuchen könnten, sei gar nicht in Betracht gezogen worden. «Ich habe schon gemerkt, dass mir das etwas ausmacht», erzählt die Autorin und kritisiert, dass dadurch andere Schulformen abgewertet würden. «Dabei kann man ja auch mit einem nichtakademischen Beruf heutzutage gut sein Geld verdienen.»

Britta Kohler rät dazu, bei der Schulsuche vor allem auf die Interessen der Kinder einzugehen und nach sportlichen, musischen oder sozialen Schwerpunkte zu schauen. «Eine grundlegende Frage ist: Muss es das Gymnasium sein – oder versucht man, damit irgendwelche Erwartungen zu erfüllen?» Es gehe darum zu entscheiden, was für das Kind in diesem Moment das Richtige sei.

Bloß nicht in eine Diagnosespirale geraten

Diese Erfahrung hat auch Anke Willers gemacht. «Es war gut, sie nicht auf Biegen und Brechen durch eine Schulform zu treten, die damals nicht zu ihr passte», sagt sie über ihre ältere Tochter, die erst auf der Realschule war und später noch Abitur gemacht hat. Vor allem dürfen Eltern nicht das Vertrauen in ihre Kinder verlieren, sagt Willers. Sie habe erfahren, wie schnell man durch schlechte Noten einen defizitären Blick auf das eigene Kind entwickelt und in eine Diagnosespirale gerät.

Legasthenie- oder Intelligenztests könnten zwar helfen, Schulprobleme einzukreisen – aber man müsse aufpassen, keine Aufregung zu verbreiten. Jedes Kind sei anders, betont Anke Willers. «Das Problem ist: Die Schule presst sie in ein System. Und da kommen einige besser zurecht, andere schlechter.» Sie kritisiert, dass Kinder, die niemanden hätten, der ihnen zu Hause hilft, im Bildungssystem benachteiligt seien.

Eltern befänden sich in einer Zwickmühle: Einerseits wollen sie dem Kind eine schöne Kindheit ermöglichen und andererseits müsse man sie antreiben. Mit allem Wissen, was sie heute habe, plädiert Willers für mehr Gelassenheit. «Ich hätte mir gewünscht, ich wäre weniger besorgt gewesen – hätte mich weniger als Hilfslehrerin vereinnahmen lassen.»

Fotocredits: Silvia Marks,Bethel Fath,Susanne Krum Fotografie,Sissi Furgler Fotografie
(dpa/tmn)

(dpa)

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