«Abenteuer fürs ganze Leben»: Zwei Pflegeväter erzählen

München – Es gab viele Abschiede im Leben von Alexander Merz. Schmerzhafte Abschiede von liebgewonnenen Kindern, die er großgezogen hat. Kinder, die seine sind, und doch wieder nicht. Merz ist Pflegevater – aus Leidenschaft, könnte man sagen.

Seit 2004 haben er und seine Frau 14 Pflegekinder bei sich gehabt. Derzeit leben vier bei der Familie im Allgäu. In der Regel kehren Pflegekinder eines Tages in die leibliche Familie zurück. «Schmerzen habe ich jedes Mal», sagt Merz. Trotzdem wollten er und seine Frau stets so vielen Kindern wie möglich ein Zuhause bieten, wenn diese in ihrem eigenen Zuhause nicht gut aufgehoben sind. «Außerdem bleibt der Kontakt oft bestehen», sagt Merz.

Pflegeeltern nehmen ein Kind auf, wenn seine Eltern es nicht erziehen können. Das kann unterschiedliche Gründe haben: ein Kur-Aufenthalt oder eine Krankheit, aber auch Alkohol- oder Drogenprobleme und Gewalt. Manche Jungen oder Mädchen werden nur für eine bestimmte Zeit, andere auf Dauer in einer Pflegefamilie untergebracht. Zumeist bleibt das Sorgerecht bei den leiblichen Eltern, die Pflegeeltern kümmern sich aber im Alltag um das Kind. Nach Angaben des
Statistischen Bundesamts lebten 2016 bundesweit 74 120 junge Menschen in Vollzeitpflege in einer anderen Familie, davon 8 178 in Bayern, wie das Landesamt für Statistik mitteilte.

Bei Alexander Merz lebten in den vergangenen Jahren meistens vier bis fünf Pflegekinder gleichzeitig – volles Haus. Denn der 50-Jährige hat auch noch drei eigene Töchter, von denen zwei mittlerweile ausgezogen sind. Als Merz und seine Frau heirateten, hätten sie es noch nicht für möglich gehalten, dass sie einmal ein Auto für neun Leute brauchen würden. Da hieß es noch, dass die beiden überhaupt keine Kinder kriegen könnten. Auf die Idee, ein fremdes Kind dauerhaft aufzunehmen, kamen die beiden, als die dritte Tochter unterwegs war und klar war, dass Merz‘ Frau zuhause bleiben würde.

«Über das Jugendamt haben wir uns dann erstmal über Tagespflege informiert», erzählt Merz. Dabei betreut eine Tagespflegeperson Kinder über eine bestimmte Anzahl von Stunden pro Woche bei sich Zuhause. Nach zwei Jahren beschloss die Familie, ein Kind in Vollzeitpflege aufzunehmen. Und mit jedem Kind, das das Haus verließ, seien fortan zwei neue dazu gekommen, sagt Merz.

Es klingt so einfach, wenn der Schwabe seine Geschichte erzählt. Dabei ist es für die meisten Paare eine gewaltige Herausforderung, ein Pflegekind aufzunehmen. Und nicht nur für sie: Auch das Kind muss sich in der neuen Umgebung zurechtfinden, sich an neue Abläufe gewöhnen, es zu akzeptieren lernen, dass es anders ist als die meisten anderen Kinder oder seine Pflege-Geschwister. «Jedes Kind bringt einen Rucksack mit», sagt Silvia Dunkel vom Münchner Jugendamt. Vor allem Kinder, die in unbefristete Vollzeitpflege vermittelt werden, hätten in der Regel traumatische Erfahrungen gemacht. «Es kommt auch darauf an, möglichst viel Normalität für diese Kinder herzustellen», sagt Dunkel.

Normalität, das ist ein Begriff, den auch ein Pflegevater aus Nordbayern verwendet – wir nennen ihn Albert Schmidt. Er will seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen, als Schutz für seine Familie. Schmidt hat zwei Pflegekinder, eine Tochter und einen Sohn. Der Sohn, heute 21 Jahre alt, habe sich gut eingelebt, bei der 12-jährigen Tochter sei es schwieriger gewesen. Sie kam als Säugling in die neue Familie, sei wochenlang panisch gewesen. Mit sieben Jahren habe das Mädchen angefangen, Fragen zu stellen. Weil ihr zu Beispiel aufgefallen sei, dass sie einen anderen Nachnamen als ihre Eltern und Geschwister hat. «Die Kinder merken: Irgendwas ist bei mir anders», sagt Schmidt. «Das kann eine Belastung sein, denn jedes Kind wünscht sich Normalität.»

Heute tragen beide Pflegekinder Schmidts Nachnamen. Und auch sonst ist Ruhe eingekehrt in die Familie. Normalerweise halten Pflegekinder Kontakt zu ihren leiblichen Eltern. Das war auch bei Schmidts Sohn so. «Die Besuche fanden damals einmal im Monat bei uns daheim statt», erzählt Schmidt. Als der Sohn neun oder zehn Jahre alt war, sei der Kontakt abgebrochen. Für die Familie war das ein entscheidender Moment: «Wir haben gemerkt, der Große kann besser wachsen, wenn er zur Ruhe kommt und weiß, wo er hingehört», sagt Schmidt.

Beide Pflegeväter sind sich einig, dass es viel Sensibilität braucht, ein Pflegekind großzuziehen. Und nicht alle Paare sind dieser Herausforderung gewachsen. Das jeweilige Jugendamt prüft potenzielle Pflegeeltern deshalb auf Herz und Nieren. Wie genau, das entscheidet jede Behörde selbst. «Vorbereitungsseminare sind häufig eine Bedingung, um die Eltern kennenzulernen», sagt Ursula Rüdiger von
PFAD für Kinder, dem Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Bayern. Was ist zum Beispiel ihre Motivation? Was sind die Wünsche an das Pflegekind, soll es etwa einer bestimmten Religion zugehören? Und ist die Beziehung stabil genug? «Es wird immer eine passende Familie für ein Kind gesucht – nicht umgekehrt», betont Rüdiger.

Das ist nicht immer leicht. «Wir haben nie genügend geeignete Pflegefamilien für den Einzelfall», sagt Silvia Dunkel vom Münchner Jugendamt. Das bedeutet, dass ein Paar zum Kind, für das eine Pflegefamilie gesucht wird, passen muss. Im Fachjargon heißt das «Matching». Die beste Werbung seien zufriedene, gut betreute Pflegefamilien, meint Dunkel. So wie die von Albert Schmidt oder Alexander Merz, der sich als Vorstandsmitglied im Verband PFAD für Kinder engagiert. «Man muss das mit Leib und Seele machen», sagt Schmidt. «Ein Pflegekind ist ein Abenteuer fürs ganze Leben.»

Fotocredits: Jens Kalaene
(dpa)

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