Alltag im Waldkindergarten mit «Händewascherde» und Spechten

Wiesbaden – «Es sieht nicht so scharf aus, aber es ist knallscharf», sagt Bela. Der Fünfjährige hat sich mit einem Klapp-Kindermesser einen Stock angespitzt und zeigt ihn stolz herum. Ganz nebenbei lernt er dabei auch noch etwas über Spechte.

Aus einem Baum gegenüber lärmen nämlich die Jungen. Immer wieder fliegen die Vogeleltern ins Loch, um die Kleinen zu versorgen. «Der Baum, in dem die Spechte wohnen, ist tot, oder?», fragt Bela die Erzieherin Ulrike Franken, die neben ihm auf einem Baumstamm Platz genommen hat. Sie bejaht und erklärt dem Jungen, warum es daher wichtig ist, tote Bäume nicht abzuholzen.

Franken, Bela und die anderen 16 Kinder gehören zum Wiesbadener Waldkindergarten
Zappelphilipp, einer Elterninitiative, die 1981 gegründet wurde. Das Konzept des Waldkindergartens stammt aus Skandinavien. Vor allem Dänemark gilt als Vorreiter. Bundesweit existieren laut dem Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten in Deutschland (BvNW) etwa 1500 derartige Einrichtungen, Tendenz steigend. In Hessen gibt es nach Angaben des Sozialministeriums knapp 100 Erziehungsstätten, die sich Wald- oder Naturkindergarten nennen.

Bei den Zappelphilippen betreuen zwei Erzieherinnen die Kinder zwischen zwei und sieben Jahren. Nur bei Gewitter- oder Sturmwarnungen zieht sich die Gruppe in ihr Domizil am Waldrand zurück. Drei Räume stehen ihnen dort zur Verfügung. «Ansonsten sind wir bei Wind und Wetter draußen», erklärt Erzieherin Heide Schleider. «Auch im Winter, dann allerdings nicht ganz so lange.» Viel braucht es dafür nicht: Matschhose, feste Schuhe, Waschlappen und warme Kleidung für die kalte Jahreszeit.

Um im Wald zurecht zu kommen, sind für die Kinder gewisse Regeln verpflichtend, neun an der Zahl. Die werden jeden Morgen beim Frühstückskreis wiederholt und so verinnerlicht. Damit kein Kind sich abseilt und verloren geht, gilt: «Wir antworten, wenn wir gerufen werden.» Sind die Kids unterwegs, rufen beide Erzieherinnen zwischendurch ihre Namen.

Wollen die Jungen und Mädchen einen Geheimweg entdecken, müssen sie das vorher besprechen. «Und sie sollen immer zu zweit unterwegs sein. Will ein Kind zurück, gehen beide», sagt Schleider. Wege, Baumstämme und Furchen markieren für Außenstehende unsichtbare Grenzen, die die Kinder aber sehr wohl kennen. Wer diese massiv überschreitet, muss bei den Erzieherinnen bleiben und darf erst einmal keine Geheimwege mehr gehen. «Je älter sie werden, desto mehr wachsen sie in die Verantwortung hinein», sagt die 62-Jährige.

Erst vor einigen Wochen gingen in einem Wald nahe Niederaula drei vierjährige Mädchen verloren. «Das ist natürlich der Albtraum jeder Erzieherin», kommentiert Schleider. Die Kinder gehörten zu einer 23-köpfigen Gruppe, die mit zwei Erzieherinnen bei einem Waldprojekttag unterwegs waren. Die drei Mädchen hatten sich von einer Waldhütte etwas entfernt und sich dann verlaufen. Nach einer groß angelegten stundenlangen Suche wurden sie gefunden.

Lotte, Ophelia, Frieda und Roja wollen gerade gar keine neuen Wege entdecken. Sie haben sich einträchtig um einen Erdhaufen versammelt und formen Brötchen oder Klöße aus Matsch. «Wasseralarm, Wasseralarm!», kreischt Lotte. Es muss ganz schnell Wasser aus einer Pfütze her. Sonst werden die Brötchen zu bröselig. Zwischendurch reicht immer eines der Mädchen trockene «Händewascherde» herum. Dann wird es wieder still und jedes Kind matscht ruhig und mit größtem Genuss vor sich hin.

Draußensein fördere die Konzentration, erklärt Helga Forssman. Sie ist Erzieherin im
Wanderkindergarten, der bereits vor 50 Jahren als nach eigenen Angaben erster deutscher Wanderkindergarten in Wiesbaden ins Leben gerufen wurde. «Die Kinder sind ruhiger, weil Stress und Lärm wegfallen. Sie sind weniger aggressiv und überreizt, die Atmosphäre ist wesentlich entspannter», sagt Forssman. Dazu kommt laut den Erzieherinnen: Alle sind selbstständiger, helfen sich gegenseitig und organisieren sich gut.

«Die Natur harmonisiert, mein Sohn blüht hier richtig auf», sagt Ullrich Kinzler, Vorstand der Elterninitiative Zappelphilipp. «Das Leben im Wald macht die Kinder psychisch, physisch und intellektuell fähiger.»

Eltern schickten ihre Kinder ganz bewusst in einen Waldkindergarten, konstatiert Forssmann. «Diese Eltern haben auch keine Bedenken, dass ihre Jüngsten zu wenig lernen», sagt die 67-Jährige. «Wer sein Kind in den Waldkindergarten gibt, muss sich von Bekannten schon die Vorurteile anhören», berichtet Heiko Rosenthal, Vorstand des BvNW. Nach seinen Erfahrungen hätten die Kinder jedoch keine Defizite, im Gegenteil. Die Kleineren lernten schnell von den Größeren. «Sie können ihren eigenen Willen äußern und auch argumentativ darstellen.»

Die Zappelphilippe haben sich inzwischen an ihrem Essensplatz im Wald versammelt und genießen ihre vegetarische Mahlzeit. Auch Bela gesellt sich dazu, das Klappmesser immer griffbereit in der Tasche. Stille stellt sich ein, begleitet nur vom Rufen der Spechte.

Fotocredits: Andreas Arnold,Andreas Arnold,Andreas Arnold,Andreas Arnold
(dpa)

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