Nach einem Todesfall muss die Familie neu zueinander finden

St. Gallen – Für Stephan Sigg aus St. Gallen war seine Oma eine der wichtigsten Frauen in seinem Leben. Als Kind liebte er es, Zeit mit ihr zu verbringen, sich von ihr inspirieren zu lassen und mit ihr durch die Gegend zu ziehen.

Ein Ausflug zu seiner Oma war immer – so schreibt er – wie ein Ausflug in ein anderes Land. Auch wenn sie nur 20 Minuten Autofahrt von seinem Elternhaus entfernt wohnte. Bei ihr fühlte er sich wie in der Villa Kunterbunt.

Als seine Oma starb, war Stephan Sigg schon über 30. Die Trauer war so groß, dass er sie jetzt in einem Buch («Abschied von meiner Oma») verarbeitet hat. «Ich habe die Erinnerungen an meine Oma zuerst nur für mich aufgeschrieben», erzählt Stephan Sigg. In vielen Gesprächen mit Freunden und Bekannten bemerkt er, dass dieses Thema sehr viel mehr Menschen beschäftigt. Aber auch, dass kaum jemand darüber spricht.

Großeltern prägen Kind so intensiv wie Eltern

Schmerzlich ist der Verlust dennoch, denn viele Großeltern prägen ein Kind stark. Aber mit der Beziehung zu ihnen beschäftigt man sich nicht so bewusst wie mit der zu den Eltern oder Geschwistern. «Mit dem Teilen meiner Erinnerungen will ich anderen Menschen helfen, sich mit ihren Großeltern zu beschäftigen», sagt Sigg.

Familientherapeut Hans Berwanger aus Coburg erklärt, warum Großeltern Kinder auf eine ebenso intensive Weise prägen wie die eigenen Eltern: «Eltern selbst befinden sich meist in einer extrem stressigen Lebensphase, müssen die Erziehung und Beruf unter einen Hut bringen», sagt er. Großeltern hingegen haben das alles schon geleistet und sind somit viel entspannter.

Sie seien diejenigen, die frei davon sind, Erziehungskompetenz und schulische Förderung der Kinder nachweisen zu müssen. Neben einem ohnehin schon vollen Terminkalender. Sie können die Zeit mit den Kindern also viel entspannter verbringen, als Eltern. «Deshalb sind Oma und Opa oft die Seelentröster, bei denen die Enkel eine bedingungslose Liebe erleben.»

Rückhalt bei Schulstress und Liebeskummer

Besonders als Jugendliche finden Enkel bei ihren Großeltern Rückhalt, wenn es um schulische Probleme, Liebeskummer, Stress mit den Eltern oder andere Sorgen geht. Bei ihnen werden sie oft angenommen, wie sie sind.

Sterben die Großeltern, können sie eine Lücke im Leben der Enkel hinterlassen – und überhaupt in der gesamten Familie. «Großeltern sind oft der emotionale Rückhalt der gesamten Familie», sagt Berwanger. Bei ihnen feiert die Familie Weihnachten, da kommen alle zusammen, die sonst vielleicht wenig Kontakt haben. Sterben die Großeltern, muss auch die Familie an sich wieder anders zueinander finden.

Gemeinsame Trauer bietet Chance für neue Bindung

Die gemeinsam geteilte Trauer biete auch eine Chance zu einer neuen emotionalen Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern. Als junge Erwachsene entwickle sich dadurch häufig eine freundschaftliche Partnerschaft zwischen ihnen. «Zu sagen, dass alles nicht so schlimm sei, da die Oma ja schon so alt war, ist der falsche Weg», findet Familiencoach Anja Rathfelder aus Dietzenbach.

Der Abschied von Opa oder Oma rücke auch die Verantwortung im eigenen Leben in den Vordergrund. «Wenn eine Generation abtritt, rückt die nächste automatisch wieder ein Stück nach», sagt Rathfelder. Dadurch ergebe sich auch eine Verantwortung für die Großfamilie, die zuvor vielleicht durch die Oma zusammengehalten wurde.

«Die nächste Generation ist damit dran, Dinge zu übernehmen, die die Großeltern zuvor gemacht haben.» Wie zum Beispiel das Ausrichten von Familienfesten. Das passiere manchmal auch erst Jahre später – befriedige aber viele.

Fotocredits: Martina Ferrari,Patmos Verlag,Studioline,Philipp Breuss
(dpa/tmn)

(dpa)

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