Wie sehr Seniorenheim-Bewohner durch die Corona-Krise leiden

Stuttgart – Wochenlang haben sie durchgearbeitet und alles gegeben. Clarita Kosel, Pflegedienstleiterin im Altenheim Haus Schönblick in Bretten (Baden-Württemberg) ist stolz auf ihre Mitarbeiter, dankbar auch für das Verständnis der Angehörigen und die Hilfe von Freiwilligen.

Hinter der Einrichtung im Kraichgau, die vom schwersten Covid-19-Ausbruch in Südwest-Heimen betroffen ist, liegen schlimme und kummervolle Wochen. Weit mehr als 60 Mitarbeiter wurden infiziert. Von den rund 180 Bewohnern hatten sich fast 140 mit dem Coronavirus infiziert, 36 sind gestorben. Anfangs hatte das Personal nach Worten Kosels kaum Schutzausrüstung, inzwischen gebe es ausreichend. «Die Situation muss nur schlimm genug sein, und plötzlich hat man Unterstützung seitens der Behörden», sagt sie. Es klingt ein wenig bitter.

Bewohner und Angehörige leiden unter Kontaktverbot

Dabei ist der wegen Corona oft einsame Tod der alten Menschen in den Einrichtungen, so schlimm das ist, nur das eine. Das andere sind die für Bewohner und deren Angehörige geltenden Ausgangs- und Besuchsbeschränkungen.

Die Folgen sind aus Sicht der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (Biva) erschütternd. «Uns erreichen verzweifelte Rückmeldungen von Menschen, deren Angehörige in den Pflegeheimen wegen des Kontaktverbots stark abgebaut haben, die abgemagert sind und einen Rollstuhl brauchen, die vereinsamen, Todeswünsche äußern und unter Depressionen leiden», sagt Sprecher David Kröll. Am vergangenen Freitag (24. April) startete Biva eine
Petition. «Pflegeheimbewohner dürfen nicht länger komplett abgeschottet werden. Besuche von Angehörigen und Betreuern müssen unter Einhaltung von verbindlichen Hygienevorschriften möglich sein», heißt es darin.

Depressionen und Lethargie können auftreten

Auch das baden-württembergische Sozialministerium hat die Dringlichkeit erkannt und die Arbeitsgruppe «Langzeitpflege» ins Leben gerufen. Resultat: Das Besuchsverbot wird ab sofort gelockert. Denn «zunehmend wird aus der Praxis berichtet, dass die Menschen in der Isolation mit Depressionen, Lethargie, Appetitlosigkeit und anderen Symptomen reagieren, die ihrerseits schwere gesundheitliche Schädigungen bis zum Tod zur Folge haben», heißt es in einem Schreiben des Ministeriums an die Einrichtungen.

Nur wie soll das gehen mit den Lockerungen? Die Handreichungen dazu seien bisher vage, moniert Oliver Deppendorf, der in Karlsruhe die Einrichtung Hanne-Landgraf-Haus leitet. «Es fehlt an Schutzausrüstung und an Tests.» So würden weiterhin etwa Senioren, die aus anderen Gründen im Krankenhaus waren, bei der Rückkehr ins Pflegeheim nicht auf das Virus getestet. Mitarbeiter, deren Partner Kontakt mit einer coronainfizierten Person gehabt hätten, bemühten sich vergeblich um Testung. «So wird das nichts. Dabei wären wir die ersten, die die Tore gerne wieder weit aufmachen würden», bedauert Deppendorf. «Es ist eine traurige Zeit.»

Wie viele Leben die strikten Maßnahmen gerettet haben, ist unbekannt. Doch seit Beginn der Corona-Pandemie hat allein das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg 160 Covid-19-Ausbrüche in Pflegeheimen verzeichnet. Fast 2900 Bewohner und Pfleger hätten sich angesteckt. Rund 420 Menschen – ausschließlich Bewohner – seien gestorben. Das sind etwa ein Drittel der Corona-Todesfälle in dem Bundesland.

Besuche mit Abstand möglich

Um die Folgen der Isolation für die Bewohner abzumildern, behelfen sich die Einrichtungen mit eigenen Aktionen. Von Balkonen aus oder durch gläserne Schiebetüren hindurch wird Kontaktaufnahme mit Angehörigen ermöglicht. Im Hanne-Landgraf-Haus stehen Laptops zur Verfügung, um mit den Familien zu skypen, also Videoanrufe zu tätigen.

In eigenen Grünanlagen oder Innenhöfen werden in kleinen Gruppen Ausgänge ermöglicht. Ehrenamtliche, die derzeit Zutrittsverbot haben, legen wie etwa kürzlich zu Ostern Geschenke vor die Tür oder hängen aufmunternde Transparente in Sichtweite auf. «Ein Ersatz für die Besuche von Angehörigen kann das aber nicht sein», sagt Deppendorf. «Mir fehlen das gemeinsame Frühstück und das Mittagessen», erzählt etwa ein 84 Jahre alter Bewohner eines Stuttgarter Seniorenheims. Frühstück und Abendbrot würden in Tüten an die Türklinke gehängt.

«Die psychischen Folgen, die sozialen Folgen für die Menschen, das kann man nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Infektionsschutz sehen», sagt Beatrix Vogt-Wuchter, Leiterin der Abteilung Pflege bei der Diakonie Baden. «Man muss es auch in seiner ethischen Dimension betrachten.» Die Arbeitsgruppe «Langzeitpflege», in der sie mitarbeitet, soll nach Worten des Landessozialministeriums weitere Maßgaben erarbeiten. Langfristig, so Biva-Sprecher Kröll, werde man nicht nur sehen, was die zum Schutz der Alten ja durchaus notwendigen Maßnahmen gegen das Virus gebracht hätten – sondern auch, was sie bei den Menschen angerichtet hätten.

Fotocredits: Uli Deck
(dpa)

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